20 Jahr Lindenbüehl

Margrit Hemund erzählt über sich und das Lindenbühl

Margrit Hemund
Frage: Liebe Margrit, du bist eine von denen, deren Name untrennbar mit der Geschichte vom Lindenbühl verbunden sind. Wie ist denn deine fast 21-jährige Geschichte mit dem Lindenbüel?

Bevor ich nach Trogen kam, habe ich 10 Jahre im Puschlav gelebt und arbeitete dort in einer selbstverwalteten Bio-Gärtnereigenossenschaft. Mich haben von je her verschiedene Berufe interessiert und, wie bei vielen anderen Leuten auch, war auch bei mir immer der «Traum vom Pensiöndli» im Hintergrund. Da habe ich ein Inserat für eine Mitarbeiterin im Lindenbüel gesehen und mich gemeldet. Was mir vor allem gefallen hat war die Tatsache, dass die zwei Betriebsleiterinnen schon damals biologische Produkte verwendet haben und dass es ein Frauenbetrieb war. Die Liegenschaft gehörte dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH). Nach einer Ära von Kinderlagern, vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, und einer Anlaufstelle für Asylsuchende, probierte man nun mit diversen Veranstaltungen das Haus zu belegen. Der Betrieb war zwar im Wandel, es gab schon erste Kurse, aber alles war wirklich noch sehr, sehr einfach. Die Gästegruppen mussten u.a. selber Betten beziehen und bei der Abreise das Haus putzen. In der alten Küche gab es noch die riesigen hydraulischen Kübel, um Spaghettisosse und Suppen für 80 Leute zu kochen.

Als ich anfing, war eigentlich schon klar, dass Brigitte – die damalige Partnerin von Carola – aufhören und mir ihre Aufgaben und Ressorts übergeben würde. Als dann auch Carola kündigte, habe ich mich beim SAH für die Stelle der Betriebsleitung beworben und sie auch bekommen.

Ich hätte gerne in einer Teamleitung gearbeitet, so wie ich es im Gärtnereikollektiv sehr positiv erlebt hatte. Ich allein hatte jedoch dem SAH Rechenschaft zu geben. Die Chefinnenrolle ist mir anfangs sehr schwer gefallen. Ich habe dann zum Glück sehr gute Frauen fürs Team gefunden, und gemeinsam haben wir uns so organisiert, dass jede Mitarbeiterin ein Ressort gemäss ihren Fähigkeiten bekam, die Gesamtverantwortung aber klar bei mir lag. Das System hat sich in der Folge sehr bewährt. Die Frauen haben sich mehrheitlich mit dem Betrieb identifiziert und konnten mich auch bestens vertreten, wenn ich abwesend war. Nur so war es möglich, dass ich diese Arbeit über so lange Zeit machen konnte.

Die Zusammenarbeit mit dem SAH war nicht einfach. Dazu muss man wissen, dass das Haus zu dieser Zeit nie so ausgelastet war wie später. Gerade unter der Woche gab es viele Lücken. Das SAH selber organisierte noch 1–2 mal pro Jahr eine Veranstaltung im Lindenbühl, sonst lag alles an mir. Nach einiger Zeit entschieden wir uns in gegenseitigem Einverständnis für eine Abkoppelung. Ich machte mich selbständig und pachtete den Betrieb vom SAH.

Das SAH war nur noch für die Liegenschaft zuständig und ich für den Betrieb. Das hiess für mich natürlich, alles auf eigene Rechnung zu machen. Ich nahm ein Darlehen als Startkapital auf, damit ich die ersten Kosten, Löhne, Versicherungen, Abos und das ganze Inventar inklusive Geschirr, Möbel und Warenlager bezahlen konnte. Das Mobiliar kostete zwar nicht sehr viel, denn die Möbel waren ja alle alt (und wurden dann nach und nach in kleinen Schritten ersetzt), aber trotzdem: Am Anfang musste ich recht investieren. Auch musste ich mich natürlich informieren, was Sozialversicherungen, die Mehrwertsteuer und all die anderen Themen anbelangte, die mit einem eigenen Betrieb zusammenhängen.

Nach circa fünf Jahren gingen dann die Probleme mit der Heizung los, und bei den Dachlukarnen hat es hineingeregnet. Irgendwann sagte ich dem SAH, dass ich so nicht mehr arbeiten könne. Da das Hilfswerk damals selber in einer Krise steckte und kein Geld hatte, beschlossen die SAH-Leute, das Haus zu verkaufen. Ihre Idee war dann: Kauf doch DU es! Und ich dachte: Dafür habe ich doch nicht das Geld. Ich kam mit den Gedanken aber von der Sitzung zurück, und da war gerade ein Stammgast, Jorgos Canacakis, mit einer Gruppe im Haus. Als ich es ihm erzählte, sagte er sofort: «Was!? Aber du kannst ja deine Gäste fragen. Du kannst auch mich fragen!» Das war der Start für den ganzen Prozess Richtung Genossenschaft.

Wie hast du das angepackt? Eine Genossenschaft gründet man ja nicht alle Tage …

Zuerst ging es um den Kaufpreis. Die Schätzung eines Architekten war ca. 670’000 Franken. Anschliessend verhandelte ich mit der Kantonalbank AI (die Ausserrhoder KB gab es schon nicht mehr), und die senkte als erstes gleich mal den Preis: «Mehr als 250’000 Franken ist für uns nicht realistisch.» Das SAH war bei diesem Thema grundsätzlich sehr offen, denn sie wussten, dass das nicht einfach ist. Sie waren also mit dem Preis einverstanden.

Ich hatte das Glück, eine tolle Nachbarin zu haben, Anka Surber. Sie hat sich von Anfang an sehr engagiert, war die Erste in der neu gegründeten Arbeitsgruppe, war bei der Geldbeschaffung sehr aktiv und später unsere erste Genossenschaftspräsidentin, zusammen mit Verena Wüthrich, welche in der Zwischenzeit ebenfalls an den Lindenbühl-Hügel gezogen war.

In der Arbeitsgruppe 1 ging es vor allem darum, welche Geschäftsform wir wählen sollten, welche Richtlinien wir als wichtig erachteten und wen wir für die Finanzierung anfragen könnten. Wir entschieden uns für die Form der Genossenschaft und erarbeiteten die Statuten. Als ich unseren Entscheid der Bank mitteilte, krebste diese jedoch zurück: «Genossenschaft ist uns zu unsicher.» Wir haben dann die Alternative Bank Schweiz (ABS) angefragt, die Erfahrung hatte mit Genossenschaften, und sie stieg ein. Zusätzlich hat sie uns einen Spezialkredit für Betriebe mit ökologischer Ausrichtung und einen Extrabonus für Frauenbetriebe gegeben.

Mit der Finanzierung war es nicht so einfach. Wir hatten uns einige grössere Summen von Institutionen und Privatpersonen erhofft; schliesslich ging es um den Erhalt einer historischen Liegenschaft und deren Nutzung für die Öffentlichkeit. Aber das klappte nicht, auch, weil in unserem Fall ein Beitrag nicht von den Steuern abziehbar war. So haben wir in sehr viel Kleinarbeit viele, viele Menschen, Gäste und Personen im Freundes- und Familienkreis angesprochen. Unter anderem habe ich auch Elisabeth Pletscher 2 angerufen. Ich wollte sie, als Vertreterin der Zellweger-Dynastie, welcher das Haus ursprünglich gehört hatte, in erster Linie darüber informieren, was wir mit dem Haus zu machen gedenken. Sie war interessiert und hatte grundsätzlich diese wunderbare Haltung: «Da kommt etwas! Da braucht jemand etwas! Was könnte ich da beitragen?» Vernetzt wie sie war, hat sie dann herumtelefoniert … all den Zellwegers … da kamen zwar nicht riesige Summen zusammen, aber doch einige treue GenossenschafterInnen.

In diesem neuen Prozess ist bei mir das Bewusstsein gewachsen, dass es auch im Interesse des Dorfs Trogen ist, dass das Lindenbühl weiterbesteht, und ich bin damit nach aussen gegangen. Das war schlussendlich für alle gut: für das Lindenbühl, für mich, auch für den Ort. Immerhin hatte weit herum niemand so viele Übernachtungen wie wir, und zahlte eine entsprechende Summe an den Verkehrsverein. Auch vom Dorf haben viele ihre Geburtstage im Lindenbühl gefeiert oder Vereinsversammlungen abgehalten.

Das Thema Geld, das mir bis anhin überhaupt nicht wichtig gewesen war, wurde plötzlich sehr konkret. «Bist du dabei? Mit wieviel? Ab wann?» In dieser Zeit gab es einige Frauenprojekte, die Frauen für die Finanzierung angefragt hatten und die dann gescheitert sind. Dabei haben viele Frauen Geld verloren. Es war mir ein grosses Anliegen, dass dies bei uns nicht passiert. Es gab viele Frauen, die dem Lindenbühl treu verbunden und auch immer wieder als Gästinnen da waren. Bei der ABS hatten wir ein Sperrkonto errichtet. Falls wir nicht genügend Geld zusammen bekämen, würden wir die Einlagen zurückbezahlen. Nachher sollten alle ihr Geld nach Bedarf wieder zurückziehen können. Auch sollte ihr Geld in Naturalien im Lindenbühl verzinst werden. Das ist bis heute so.

Wie lange dauerte der Prozess von dem Moment, als das SAH sagte: «Wir wollen das Haus verkaufen», bis zur Gründung der Genossenschaft 2003?

Genau kann ich es gar nicht sagen, aber zwei Jahre waren das sicher. Der ganze Prozess hat wirklich Zeit gebraucht. Ich habe immer das Bild im Kopf von dem Finanz-Barometer, das du, Pia gebastelt hast, und welches wir auf dem Tisch im Eingang installierten, um zu zeigen, wie das notwendige Geld nach und nach zusammenkam. Dasselbe haben wir dann später noch einmal für die Finanzierung des Umbaus gebraucht. Dieses Bild, wie sich die Röhren langsam aber stetig füllen und wir uns Kiesel um Kiesel unaufhörlich dem Ziel nähern, das ist für mich untrennbar mit den Erfolgsgeschichten vom Lindenbühl verbunden.

Was hat sich für dich verändert durch die Gründung der Genossenschaft?

Eine Genossenschaft hat den Vorzug, dass die Liegenschaft breit abgestützt ist und auf vielen verschiedenen Schultern «ruht». Die vielen und unterschiedlich grossen finanziellen Beiträge von GenossenschafterInnen führten dazu, dass das grosse Ganze nicht gefährdet ist, wenn jemand einzelnes aussteigt.Für mich ganz direkt war die Zusammenarbeit mit dem Vorstand sehr unterstützend. Dieses Team war vor Ort und nicht, wie das SAH in Zürich, weit weg und ohne wirkliche Ahnung, was hier läuft und wichtig ist. Ich war nicht mehr alleine mit der Sorge um und der Fürsorge für die Liegenschaft. Und auch für die kulturellen Anlässe im Haus bekam ich Unterstützung.

Erzählst du ein paar Geschichten und Herausforderungen, die dir im Zusammenhang mit dem Lindenbühl einfallen?

Eine grosse Herausforderung war der Umgang mit den Nachbarn. Ich wollte es immer allen recht machen und konnte mich lange nicht gegen die Anfeindungen von Seiten des Altersheim, aber auch von Seiten des damaligen Bauern behaupten. Irgendwann habe ich dann einen Weg gefunden, mich und vor allem auch die Gäste zu schützen. Jetzt ist alles anders. Eine neue Generation hat das Altersheim übernommen und eine junge Familie den Bauernbetrieb. Damit kehrte viel mehr Toleranz und Wohlwollen ein.

Wichtiger in meiner Erinnerung ist aber die grosse Fülle an Begegnungen mit Menschen: eine bunte Palette an Leuten und Themen, viele Aus-und Weiterbildungsgruppen (vor allem bevor es die Fachhochschulen gab), politische Gruppierungen, esoterische Workshops, von Trachtengruppen bis zu Yogakursen, einfach alles. Die Trauerseminare von Jorgos Canacakis und auch seine Weiterbildungen für Trauerbegleiterinnen nahmen lange Zeit einen grossen Platz ein. Die Retreats im Dunkeln, die einige Male im Dachstock durchgeführt wurden, oder die Lesbentagungen kommen mir in den Sinn. Das war ein grosses, jährliches Ereignis, für welches ich sämtliche Hotelzimmer der Umgebung und auch einen externen Saal dazumietete. Es gab Ferienwochen mit Behinderten; diese Kontakte waren immer sehr herzlich und unmittelbar.

Wir hatten sehr viele und grosse Feste. Unglaublich viele Menschen verbinden schöne, gute, spannende Zeiten mit dem Lindenbühl. Noch heute, wenn ich irgendwo hin komme, treffe ich Leute an, die mich erkennen als «die vom Lindenbühl».

Und immer wieder gab es diese Erlebnisse, dass die Geschichte in die Gegenwart hineinspielte. Das hatte ich wahnsinnig gern. Einmal standen ältere Leute vor der Türe. Sie sprachen nur sehr gebrochen Deutsch und erzählten, dass sie in Polen leben und dass die Frau als Kind nach dem Krieg hier in den Ferien gewesen sei. Sie wolle jetzt einfach diesen Ort nochmal sehen, denn das sei damals so wunderschön gewesen, und sie hätte sich hier seit langem einmal wieder richtig satt essen können. Das Verrückte war, dass ausgerechnet an diesem Tag der jährliche Sirenentest war und als diese Sirenen losgingen … meine Güte, das hat mich extrem berührt, diese Geschichte und der Schreck dieser Menschen, als die Sirenen losgingen.

Eindrücklich war auch die Lesung mit Eveline Hasler und ihrem Buch über Henry Dunant, welcher während einer gewissen Zeit im Lindenbühl gelebt hatte. Und da gab es auch einmal einen Besuch von einem Vertreter des Chinesischen Roten Kreuzes. In jungen Jahren war er Offizier in der roten Armee gewesen. Dann wurde er Pazifist und wollte unbedingt sehen, wo Henry Dunant gelebt hat.

Mit viel Freude denke ich an die vielen engagierten Frauen im Team zurück. Auch da lief immer irgendwas. Zum Beispiel gab es einmal einen teaminternen Wettbewerb für die Gestaltung der WCs im Treppenhaus, samt einer Einweihung, bei der wir mit einem Cüpli in der Hand die WCs besichtigten und feierten. Auch machten wir regelmässig Ausflüge zu Lieferanten oder in andere Betriebe. Um uns auf die neue Situation nach dem grossen Umbau vorzubereiten, fuhren wir sogar einmal in ein Seminarhaus im Schwarzwald. Das haben wir sehr genossen.

Mit dem Architekten Urs Eberle hatte ich eine sehr kreative, schöne Zusammenarbeit. Mit seiner Liebe zu alten Häusern und der Sorgfalt, mit der er von den ganz kleinen Dingen bis hin zum grossen Umbau mit der verglasten Veranda arbeitete, brachte er dem Haus sehr viel positive Veränderungen.

Die Idee, anstelle des Schopfs einen Neubau mit grossem Saal zu erstellen, mussten wir leider aufgeben, da alles zu teuer geworden wäre und den Betrieb zu sehr belastet hätte. Aber auch so wurde das Lindenbühl immer attraktiver und war immer besser ausgebucht. Die Zeit und auch die Umbauten im Haus haben andere und neue Gäste mit anderen und neuen Ansprüchen angezogen. Auf diese musste ich, mussten wir auf vielfältige Weise reagieren.

Was war für dich der Grund, die Leitung des Lindenbühls nach all den Jahren abzugeben?

Ich kam an meine Grenzen als Allrounderin. Meine Haltung: «Jede Arbeit ist gleich viel Wert und soll gleich entlöhnt werden», geriet ins Wanken. Es brauchte zunehmend Fachleute, Gastroprofis, und die wollten besser bezahlt werden als Einsteigerinnen.

In vielen Dingen ergab sich daraus eine Art Kulturwandel. Es waren neue Ausrichtungen nötig, die zu mir im Grunde nicht mehr passten. Ich war auch erschöpft und hatte irgendwann das Gefühl, dass ich an einen Übergang denken muss und im Lindenbühl aufhören möchte, solange es noch gut ist.

Ein wirklich aufregender Moment war dann der, als ich an der Vorstandssitzung sagte: «Ich möchte eine Nachfolgeregelung!» Meine Güte! Zuerst wusste niemand, wie damit umgehen. Was ist der Anfang in einem solchen Prozess? Welche Schritte sind in welcher Reihenfolge richtig und sinnvoll? Mir war klar, dass ich das nicht allein angehen wollte. Pia, du hast mir dann zum Glück Peter Metzger vorgestellt, der viel Erfahrung mit Nachfolgeregelungen hat. Er begleitete einerseits den Vorstand der Genossenschaft, aber andrerseits auch mich persönlich durch diese komplizierte Zeit. Das war sehr konstruktiv. Ich freue mich noch heute jedes Mal, wenn ich ihn sehe.

Froh und zuversichtlich, zwei Nachfolgerinnen gefunden zu haben, machte ich mich auf den Weg zu Fuss über die Berge nach Venedig. So konnte ich innerlich und äusserlich Distanz nehmen zu einer langen Zeit mit strenger, aber wunderbarer und abwechslungsreicher Arbeit im und mit dem Lindenbühl und all den Menschen, die damit verbunden waren. Gut in Erinnerung habe ich das Ende meiner letzten 24 Stunden als Pächterin. Da bin ich mitten in der Nacht aufgewacht mit der plötzlichen Erkenntnis: «Jetzt bin ich nicht mehr zuständig! Falls ein Feueralarm losgeht oder es irgendein Problem oder einen Notfall gibt, müssen andere schauen.» Erst damit wurde mir die grosse Verantwortung zum Abschluss noch einmal ganz bewusst.

1) Arbeitsgruppe: anfangs Anka Surber, Marie Löhrer, Margrit Hemund, zwischendurch Henry Frei, Christoph Popp, zugezogen als Beraterin Lotti Herrmann, später wurde Marie Löhrer von Sylvia Huber abgelöst und Pia Bartsch kam dazu.

2) Hanspeter Strebel und Kathrin Barbara Zatti: «Es gibt Dinge, die brauchen Zeit. Elisabeth Pletscher, Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts», Appenzeller Verlag 2005.

Pia Bartsch war langjähriges Vorstandsmitglied der Genossenschaft.

Pia Bartsch (links) und Sylvia Huber an der Genossenschaftsversammlung 2008.

Pia Bartsch und Sylvia Huber